»Ich war elf Jahre alt, als die Mauer fiel. (...) Im Osten war die Mauer grau. Eine rot-weiße Absperrung mit einem ‚Betreten verboten!‘-Schild stand davor. Die Westseite der Mauer war im Gegensatz dazu bunt bemalt. Das war einer der ersten Unterschiede, die ich wahrnahm. (...) Ich erinnere mich an Bilder der Flucht vor dem Mauerfall. (...) Alle diese Menschen haben eine Grenze überschritten. Auch wenn ihre Fluchtversuche gescheitert sind, waren sie im Moment der Flucht wirklich frei. Ich interessiere mich in meiner Arbeit für diesen Moment.« Matthias Wermke
In den letzten Jahren haben Matthias Wermke und Mischa Leinkauf zusammen an einem romantischen, bisweilen – im doppelten Sinn – untergründigen Werk gearbeitet, das den oben beschriebenen Moment der Freiheit für sich reklamiert, thematisiert und zelebriert. Ihre Arbeitsweise ist zu einem großen Teil illegal: Durch temporäre Aktionen und Interventionen nehmen sie unseren öffentlichen Raum in Besitz und ignorieren geflissentlich die Vorschriften, die unseren Umgang mit ihm regeln. Man kann die Aktivitäten des Duos ‚Post-Graffiti‘1 nennen, insofern sie auf die Prinzipien des Graffiti zurückgreifen, diese aber gleichzeitig durch methodische Modifizierung sowie die Nutzung anderer Medien diversifizieren und so den Dogmatismus eines auf Style-Writing fokussierten Formalismus weit hinter sich lassen. Bei ihren Aktionen handelt es sich um subversive Possen in der widerspenstigen und verspielten Debord’schen Tradition der dérive, doch bildet in ihrem Fall das Rahmenkonzept präziser Planung und Ausführung das Gegengewicht zur Unmittelbarkeit und Spontaneität des nächtlichen Sich-treiben-Lassens. Ein markantes Merkmal der Filme von Wermke Leinkauf ist die äußerst sorgfältig konstruierte Bildsprache, die, was Licht, Kadrage und den Schnitt betrifft, sich nahtlos an den poetischen Kern ihres künstlerischen Projekts anschmiegt. Die meisten (Post-)Graffiti-Videos zeichnen sich durch eine nervös geführte Handkamera aus, mit der die Intensität des kreativen Moments hyperrealistisch eingefangen werden soll. Im Gegensatz dazu nehmen sich Wermke Leinkauf Zeit für die akribische Vorbereitung ihrer nächtlichen Aktionen, die sie mit der Kamera dann auch so ruhig wie möglich festzuhalten suchen.
Der vielleicht auffälligste Aspekt der jüngsten Arbeiten von Wermke Leinkauf, einschließlich Zwischenzeit, ist wohl das Moment der Zeitlichkeit: So ist ‚Zeit‘ zwar generell ein in medialer Hinsicht bestimmender Faktor von Video und Performance, doch benötigen die Aktionen der Künstler auch zwingend den Schatten der Berliner Alltagsrealität, sie müssen irgendwann zwischen der letzten U-Bahn in der Nacht und dem Rattern des ersten Zugs im Morgengrauen stattfinden. Indem die Performances die Loci symbolisch mit poetisch-aktivistischer Energie aufladen, schreiben sie sich unauslöschlich den Orten ihres Geschehens ein (im Fall von Zwischenzeit: dem nächtlichen Berliner U-Bahnnetz, seinen Tunneln und Stationen) und kreieren dadurch neue Mythologien für diese unpersönlichen, aber auf einen unheimliche Art sprechenden urbanen Zonen. Zwischenzeit handelt von der Zeit, die es braucht, um von der einen U-Bahnstation zur nächsten zu gelangen. Zeit, die, wenn man in der U-Bahn fährt, sehr schnell vergeht, wird so weit gedrosselt, dass zum Vorschein kommt, was sich ansonsten niemals sehen und erfahren lässt: all das dazwischenliegende Zeug – das Geröll, der Schutt, das unfassbare Nichts. Eine U-Bahnstation könnte man als einen ‚Nicht-Ort‘ definieren, aber es sind die Tunnel, die den wahren Nicht-Ort bilden: unentdeckt, nie wirklich betreten. Insofern handelt es sich um eine poetische Variante urbaner Archäologie. Um eine Art von Spiel, das in einer betont aktivistischen Do-it-yourself-Tradition steht, sich dem rasant digitalisierenden zeitgenössischen Spiel-Raum widersetzt und mit aller Entschiedenheit die dringende Notwendigkeit körperlicher Erfahrung unterstreicht.
Die romantische Ader dieses Werks scheint sich bruchlos an aktuelle Entwicklungen in der Gegenwartskunst anzuschließen, wo eine neue Generation junger Künstler damit beschäftigt ist, vergleichbare Themen auszuloten: die Grenzen individueller Freiheit, den Rückfall des Politischen ins Poetische, die Wiederverzauberung der Alltagswelt. Der Kunstkritiker Jörg Heiser prägte vor einiger Zeit den Begriff des ‚Romantischen Konzeptualismus‘, um zeitgenössische künstlerische Positionen zu beschreiben, in denen der methodische Rationalismus der Konzeptkunst mit dem intuitiven und emotionalen Ansatz der Romantik verbunden wird. Wermke Leinkauf’s künstlerisches Projekt scheint jedoch auf anderes abzuzielen: Obwohl ihr Freiheitsanspruch strukturell-methodisch untermauert ist, scheinen sie nicht so sehr daran interessiert zu sein, sich innerhalb der konzeptualistischen Tradition zu verorten; die Entscheidung, was und wie sie etwas tun, kommt trotz präziser Planung und Vorbereitung (für Zwischenzeit entwickelten sie eine leichte und zusammenlegbare Draisine, um damit die Bahnschienen befahren zu können; auch trainierten sie körperlich für diese Arbeit) eher aus dem Bauch als aus dem Kopf – resultierend aus ihrer praktischen Erfahrung, abseits des Ateliers.
Die in Zwischenzeit zur Darstellung gebrachte Faszination für das dunkle, sich endlos verzweigende U-Bahn-Netz erweckt auf psychologischer Ebene starke Assoziationen mit Werken von Künstlern, die die ganze Bandbreite der Medien repräsentieren. Beispielsweise Gregor Schneider, der fortwährend die Anordnung der Räume seines Hauses rekonfiguriert und so eine unheimliche Schichtung der Normalität entstehen lässt; oder Daniel Roth, dessen Werk auf einer eher fiktionalen Ebene von der Einfügung (oder sogar Auflösung) des menschlichen Körpers in Labyrinthstrukturen handelt. Gezielt und mit Nachdruck wird in Zwischenzeit das Werk von Hans Schabus reflektiert: In seinem Video Western (2002), Teil einer immer weiterlaufenden Serie von Arbeiten, die den Künstler zeigen, wie er in einem winzigen Segelboot an ungewöhnlichen Orten unterwegs ist, erforscht Schabus das unterirdische System der Abwasserkanäle seiner Heimatstadt Wien.
Die Kombination melancholischer Sehnsucht nach Freiheit und womöglicher körperlichen Gefährdung im Zuge des performativen Aktes erinnert zudem an das Werk des jungen niederländischen Künstlers Guido van der Werve. Obwohl dessen filmische Arbeiten typischerweise in erhabenen Landschaften angesiedelt sind – einer Welt fern unserer jetzigen Metropolen mit ihren dunklen und schäbigen Winkeln, derer wir in Wermke Leinkauf’s Œuvre ansichtig werden –, sind sie dennoch von derselben trotzigen Romantik und derselben Haltung spielerischer Schicksalsherausforderung durchdrungen. Es sind vor allem zwei Filme, die einem hierzu einfallen: Nummer acht (2007) und Nummer negen (2008). Beide wurden in eiskalten Umgebungen gedreht, und beide zeigen den Künstler bei einer zwecklosen und doch sehr aussagekräftigen Unternehmung. In Nummer acht schlendert van der Werve, als ob es das Normalste auf der Welt wäre, auf dem zugefrorenen Finnischen Meerbusen vor einem gigantischen Eisbrecher einher und riskiert dabei (oder spielt zumindest mit dem Risiko), von diesem überfahren zu werden. Nummer negen zeigt den Künstler, wie er direkt auf dem geografischen Nordpol sich langsam 24 Stunden lang mit der Sonne im Uhrzeigersinn dreht und so sich metaphorisch der Erdrotation widersetzt.
Es ist genau dieses Sich-gegen-den-Lauf-der-Dinge-Stemmen, was auch in Zwischenzeit zum Tragen kommt. Indes geht diese Arbeit über den aktuellen bloßen Romantizismus oder auch eine bloße Performancekunst hinaus. Obgleich weder eine explizit politische Agenda noch der Einsatz von Slogans oder sonstiger Zeichen eine Rolle spielen, stellt der Aspekt des zivilen Ungehorsams implizit die wichtigste Botschaft dar. Anstatt die Zentren der Macht und der Kontrolle mit den üblichen Methoden politisch engagierter Kunst anzugreifen (was für gewöhnlich auf eine Enttarnung korrupter Mechanismen hegemonialer Strukturen hinausläuft), zeigen diese Künstler spielerische Alternativen für unsere vorhandene Umwelt auf. Dazu rufen sie ein ganzes Register ungeahnter Möglichkeiten auf, um so ein poetisches Bewusstsein von unser aller Individualität zu erzeugen und uns an unsere Pflicht zu erinnern, über die Grenzen des täglichen Daseins hinaus zu träumen.
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Eine etwas problematische Klassifizierung, wie ich finde, weil so alle Arten von unregulierter künstlerischer Produktion im frei zugänglichen Bereich der Öffentlichkeit auf etwas reduziert werden, das außerhalb dessen liegt, was die sogenannte Hochkunst ausmacht, und damit ihrer Diskussion auf demselben – potenziell ertragreichen – diskursiven Niveau abträglich ist. ↩